Ja, hier kommt endlich der erste Bericht, ich hoffe, er gefällt, sonderlich viel ist noch nicht los geht, es beschreibt vor allem Lukas Lebenslauf und ihre Ankunft ;)
„Viel Glück“, sagte ich kurz angebunden und überreichte die braune Stute an meiner Hand an die neue Besitzerin. Sie sah mich verwundert an. „Willst du dich nicht verabschieden?“, fragte sie. Aus reinem Pflichtgefühl trat ich neben Queen Rose und umarmte sie. Kurz. Das erste Mal, seit einem Jahr. Seit sie mir gehörte. Dann drehte ich um und öffnete die Hängerklappe. Die neue Besitzerin führte sie hinein und schloss Stange und Klappe. Danach verabschiedeten wir uns und sie stieg ins Auto und fuhr davon. „Das ist ein Mensch, der sein Leben lang für ein Pferd gekämpft hat. Sie wird sie lieben. Queen Rose wird IHR Pferd werden“, schoss es mir durch den Kopf. Wie gern hätte ich auch ein „eigenes“ Pferd gehabt. Nicht, dass ich in meinem Leben nicht genug Pferde verschiedenster Rassen besessen hatte, aber zwischen dem “Gekauften“ und dem „Eigenem“ Pferd gab es eine riesige Lücke. Und die hatte ich nie überwinden können. Warum auch? Wofür auch? Wenn ich das Pferd doch sowieso nicht wirklich kennen lernen würde. Lange sah ich dem Hänger noch hinterher, selbst als er längst aus meinem Blickfeld verschwunden war.
„Jetzt ist es vorbei. Nie wieder Pferde“, flüsterte ich, „Endlich.“ So lange hatte mein Leben aus verpatzten Galoppwechseln, Turnieren und Turnierschleifen bestanden. Das war jetzt vorbei. Ich wollte nie wieder reiten. Ich wollte alles, was ich von meiner Jugend verpasst hatte nachholen. Jungs kennen lernen, Freundinnen finden und vor allem Spaß haben. Endlich nirgendwo mehr die Stalltussi sein. Nie mehr unter der Fuchtel meiner Mutter oder meinen Reitlehrern stehen. Frei sein.
Ich blickte auf die Uhr. Es war kurz vor drei. „Ou, Shit“, zischte ich. In einer Dreiviertelstunde fuhr mein Zug. Ich packte den Koffer, den ich heute mit in den Stall genommen hatte, um nicht noch mal nach Hause gehen zu müssen, bevor ich dieses elendige Dorf endlich verlassen konnte. Meine Eltern hatte ich überzeugt, mich nicht zum Bahnhof zu begleiten. Ich wollte keinen Abschied haben. Mit Abschied konnte es kein richtiger Neuanfang werden, fand ich. Ich zückte mein Handy und rief ein Taxi, während ich den Hof verließ und mich an die Straße stellte. Da der Taxistand ziemlich in der Nähe war, kam mein Taxi schnell. Ich stieg ein und nannte dem Fahrer mein Ziel. Dieser gab es in seinen Navigator ein und fuhr los. Dann drehte er sich zu mir um. Ich zuckte zusammen. Das war doch einer von den Stallburschen. Wieso fuhr der denn Taxi? Er schien genauso erstaunt mich zu sehen und zog die Augenbrauen hoch.
„Aha, die Profi-Reiterin, die sich zu gut ist, mich zu grüßen“, stellte er fest.
Ich wollte eine zickige Antwort geben, aber im Kontern war ich wirklich schlecht. Deshalb nickte ich nur. Es stimmte ja, den Stallburschen hatte ich nie wirklich viel Wert beigemessen. Wieso auch? Die machten ja nur die Drecksarbeit. Trotzdem fühlte ich mich, jetzt, wo ich von einem solchen durch die Gegend gefahren wurde ein wenig unwohl und schämte mich für meine Arroganz.
„Das tut mir Leid“, murmelte ich. Dann herrschte wieder Stille zwischen uns.
„Willst du mir vielleicht jetzt deinen Namen sagen?“, durchbrach der Stallbursche das Schweigen.
„Ja klar“; erwiderte ich, erleichtert, dass ich vielleicht zumindest einen meiner Fehler wieder halbwegs ausbessern konnte. „Luka.“
„Luka?“, ich hörte geradezu sein Augenbrauchen hochziehen. „Bist du ein heimlicher Junge?“ Ich biss mir auf die Lippe. Wie ich meinen Namen hasste.
„Luka kann auch ein Mädchenname sein. Kommt aber selten vor“, erklärte ich.
„Aha. Wusste ich gar nicht. Ich bin Felix. Nur für Jungen“, er grinste und zeigte dabei einen seiner Goldzähne. Ich nickte. Mir fiel nichts ein, was ich erwidern konnte. Schließlich wechselte ich das Thema: „Wieso fährst du Taxi, wenn du Stallbursche bist“, fragte ich. „Stallburschen verdienen schlecht. Deshalb mache ich das hier als Nebenjob“, erklärte er. „Aha“, erwiderte ich. Wir kamen am Bahnhof an und ich war erleichtert, dieses peinliche Gespräch nicht mehr fortsetzen zu müssen. Ich verabschiedete mich und packte mein Gepäck. „Viel Spaß“, rief Felix mir hinterher. „Wo geht’s denn hin?“
„Weg“, sagte ich. „Endlich.“
Dann drehte ich mich um und ging zu dem Gleis, von dem mein Zug fahren sollte. Ich spürte die stechenden Blicke in meinem Rücken. Aber ich ging weiter.
Am Gleis stand mein Zug bereits. Ich trabte über die Stufen nach oben. So schnell ich konnte. Wie von Wölfen gehetzt rannte ich dann durch den engen Zugflur. Ich wusste nicht, wieso ich es so eilig hatte, aber es musste einen Grund haben. Ich fand meinen Platz und ließ mich in den weichen Sessel fallen. Mein Herz schlug und das Gefühl weiter rennen zu müssen, setzte sich in mir fest. Erst als der Zug wenige Minuten später anfuhr, wurde ich ruhiger. Endlich kam ich hier weg. Endlich.
Die Landschaft um mich herum flog vorbei, nach einer halben Stunde kamen wir vom Land in die Stadt. Hier war ich ein paar Mal gewesen, um Reitsachen oder Schulzeug zu kaufen, welches es im Supermarkt unseres Dorfes nicht gab. Ich sah mich um. Große graue Gebäude, Einkaufszentren, Hochhäuser und vieles mehr gab es hier. Ich sah Pärchen auf den Gehsteigen, die sich küssten und Freundinnen, die lachend, mit großen Einkaufstüten in der Hand nebeneinander hergingen und sich große Tüten Süßigkeiten teilten. Ich spürte einen Stich der Eifersucht in meiner Brust. Nicht wegen der Süßigkeiten, sondern weil ich so etwas nie gehabt hatte. Mit Freundinnen shoppen gehen, oder einen Freund finden, das hatte ich nie erlebt. Soviel hatte ich verpasst. Wegen den Pferden, die mich doch eigentlich langweilten und des Lernens, von dem ich eigentlich nichts interessierte, was ich da in meinen Kopf reinpresste. So etwas hätte ich haben können. Wären nie die Pferde gewesen. Ich hasste mich dafür, jemals mit dem Reiten angefangen zu haben. Ich war ja eigentlich Schuld gewesen, dass ich meine Mutter in diesen Turnierwahnsinn trieb. Damals, mit Fina hatte sich das alles noch so toll angefühlt, aber als ich das erste Mal das Pferd wechseln musste und meine ersten richtigen Turniere geritten war, hatte ich langsam gemerkte, was für ein harter, gemeiner Konkurrenzkamp das reiten eigentlich war. Und von Jahr zu Jahr, von Pferd zu Pferd, hatte sich das gesteigert. Nach einer Zeit war ich zwar sicher im Sattel gewesen, aber das Reiten hatte ich zutiefst gehasst. So sehr hatte ich mir gewünscht, einmal entspannt Ausreiten oder mit meinem Pferd einfach knuddeln zu können. Aber dafür hatte die Zeit gefehlt. Unter der Woche tägliche Trainerstunden, am Wochenende Turniere. Nach einer Zeit hatte ich diese Wünsche aufgegeben, war einfach geritten, was ich musste, hatte mich weitergebildet, aber es hatte für mich keine Bedeutung mehr gehabt, auf dem Pferd zu sitzen. Goldene Schleifen waren für mich genauso unwichtig geworden wie Disqualifikationen.
Aus der Stadt fuhren wir jetzt durch einen Tunnel und danach über Land. Und je weiter wir von meinem Heimatdorf wegkamen, desto ruhiger wurde ich. Inzwischen spürte ich sogar große Freude auf Apfelberg. Dort würde ich neu anfangen. In meiner eigenen Wohnung mein eigenes Leben leben. In einem halben Jahr würde ich mich an der Uni im Fachbereich Wirtschaft studieren und alles würde gut werden. Keine Pferde mehr. Nie mehr Pferde.
Nach einer weiteren Stunde Fahrt hielt der Zug und aus den Mikrofonen schnarrte es: „Leightning, Endstation, Umsteigemöglichkeiten Richtung Fischerbach, Domdorf und Berlin.“ Ich stand auf und hievte den Koffer von der Gepäckablage. Meinen Rucksack warf ich mir über den Rücken, dann verließ ich den Zug. Als ich ausstieg blies mir ein leichter Wind durch die Haare. Neugierig sah ich mich um. Leightning schien eine hübsche Stadt zu sein. Vom Bahnhof sah ich auf eine Hochhaussiedlung und einige Einkaufsmöglichkeiten. Gemächlich schlenderte ich in Richtung Taxistände. Als ich dort ankam wurde ich allerdings überrascht. Kein einziges Fahrzeug stand mehr da. Außer mir stand nur noch eine Gruppe Geschäftsmänner hier, die sich lautstark darüber beschwerte. Ich entschied mich zu warten und setzte mich auf meinen Koffer. Aber auch nach einer halben Stunde kam kein einziges Taxi. Ich wollte gerade aufstehen und eine Bushaltestelle suchen, als mir jemand auf die Schulter tippte. Überrascht drehte ich mich um. Es war eine junge Frau. Höchstens zwanzig. „Guten Tag“, begrüßte ich sie überrascht.
„Guten Tag“, sie lächelte mich an. „Ich bin Lilly Castle. Sie sehen aus, als könnten Sie eine Mitfahrgelegenheit brauchen. Taxis kommen heute nämlich keine mehr.“
„Ähm… ja“, stotterte ich verwirrt. Was wollte die? Naja, wie eine Kidnapperin sah sie wirklich nicht aus. Vor allem war sie bestimmt nicht viel älter als ich.
„Müssen sie in Richtung Apfelberg? Das wäre nämlich mein Weg.“
Ich nickte langsam. Weiterhin unsicher. So viel Freundlichkeit war ich gar nicht gewöhnt. „Sorry übrigens, wenn ich Ihnen aufdringlich erscheine, nur, die Taxifirma gehört Bekannten von mir und sie sind heute völlig ausgebucht, da haben sie mich gebeten, zumindest einen Kunden in meinem Auto mitzunehmen“, brachte Frau Castle schließlich Licht ins Dunkle. Ach so war das.
„ Ach so, jetzt verstehe ich, ich hatte mich schon gewundert. Übrigens, ich hätte mich Vorstellen sollen, ich bin Luka. Sie können ruhig Du sagen, ich bin erst 17“, wagte ich einen Vorstoß. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Ich war nicht geübt darin, mit Fremden zu sprechen.
„In Ordnung… Luka. Du bist aber schon ein Mädchen, oder?“, Frau Castle grinste, wohl amüsiert über meinen Namen.
„Jaja, bin ich“, klärte ich sie auf.
„Gut, okay. Übrigens kannst du auch Lilly und Du zu mir sagen“, erwiderte sie.
Wir machten uns auf den Weg zu ihrem Auto. Es war ein roter Volvo und stand dort, wo eigentlich die Taxis sein sollten. Ich wunderte mich, dass er mir nicht schon vorher aufgefallen war.
„Mit Ledersitzen wie im Taxi kann ich leider nicht dienen, aber ich hoffe, dass ist trotzdem in Ordnung“, sagte Lilly, während wir meinen Koffer ins Auto luden.
„Ja, das ist gar kein Problem“, erwiderte ich. Wow. Ich hatte nie gedacht, dass ich so normal mit Menschen reden konnte. Leightning zeigte schon erste Wirkungen des Neuanfangs. Und das obwohl ich noch nicht einmal eine Stunde hier war.
Lilly öffnete mir die Beifahrertür und ich stieg ein. Innen empfing mich ein vertrauter Geruch. Ein zu Vertrauter.
„Riecht ein bisschen nach Pferd, ich hoffe, das stört dich nicht“, Lilly sah mich entschuldigend an.
„Nein, nein. Reitest du?“, antwortete ich. Kaum hatte ich die Frage ausgesprochen, merkte ich, wie bescheuert sie klang. Als ob jemand, bei dem es nach Pferd roch nicht reiten würde.
„Ja, ich und meine Schwester führen das Gestüt von Apfelberg“, erwiderte Lilly.
Ein Gestüt in Apfelberg? Jetzt verfolgten mich die Pferde auch noch in mein neues Heim.
„Ach so“, erwiderte ich, etwas unmutig.
„Magst du keine Pferde?“, Lilly klang erstaunt.
„Doch, es sind nur nicht meine Lieblingstiere“, sagte ich schnell.
„Aha. Vielleicht kommst du bei uns auf den Geschmack. Apfelberg ist ein wahrer Reitertreff. Mindestens jeder dritte bei uns reitet“, meine Lilly. Auch das noch.
„Ja, vielleicht…“, murmelte ich vage…
„Okay, dann wollen wir mal. Wo soll es denn hin gehen?“, wechselte Lilly das Thema. Ich entfaltete den Zettel mit der Adresse zu meinem neuen Haus und nannte sie ihr.
„Ach, da bist du ganz in der Nähe von unserem Hof“, meinte Lilly. „ Wen besuchst du da?“
Ich biss mir auf die Zunge. „Ich besuche niemanden, ich ziehe dort ein“, erklärte ich.
„Ach so, das ist ja toll. In dem Haus wohnt auch eine unserer Einstellerinnen.“
Dieses „nie mehr Pferde“ versprach komplizierter zu werden, als ich gedacht hatte.
Nach einer halben Stunde Fahrt langten wir an einem schön gelegenen Mehrfamilienhaus an.
„Dein neues Heim“, meinte Lilly. „Viel Spaß, vielleicht sieht man sich ja mal.“
„Dankeschön. Sicher doch“, sagte ich, stieg aus und lud meinen Koffer aus dem Kofferraum.
Lilly fuhr weiter und ich umgriff mit schwitzenden Händen den Schlüssel in meiner Hosentasche. Langsam ließ ich ihn in das Schloss gleiten und drehte ihn um. Ich öffnete die Tür und stand in einer Vorhalle. Meine Wohnung war gleich unten drin. Die erste, gegenüber der Tür. Auch dort schloss ich auf. Jetzt war ich gespannt. Um die neuen Möbel und die Einrichtung hatte sich mein Vater gekümmert, ich sollte überrascht werden. Ich stieß die Tür auf und sah in den Flur. Eine schöne Kommode stand dort und an der Wand reihten sich Bilder. Ich stellte den Koffer ab und lief durch alle Zimmer. Alles war schön eingerichtet, es gefiel mir. Hier würde der Neuanfang mir leicht fallen, da war ich völlig sicher.
Nachdem ich mich einige Zeit lang umgesehen hatte, wollte ich auspacken. Ich öffnete den Koffer und wollte die Kleider herausnehmen. Obenauf lag etwas, was ich nicht eingepackt hatte. Ein schwarzes Album. Ich nahm es verwundert heraus und öffnete den Brief, der beilag.
Liebe Luka,
Du wolltest ja, unerklärlicherweise keinen richtigen Abschied von dir, aber ich verstehe das schon, du pubertierst eben. Deshalb habe ich dir ein Album beigelegt, in dem die Fotos deiner Pferde und Erfolge der letzten Jahre sind. Ich hoffe, meine kleine Pferdenärrin hat Spaß daran.
Deine Mama.
Ich ließ den Brief voll Hass sinken. Meine Mutter. Kleine Pferdenärrin. Wie sollte das mit diesem Album ein Neuanfang sein. Trotz meines innerlichen Widerstandes hielt ich es nicht aus, das Album nicht zu öffnen. Ich schlug es auf. Alte, verblichene Fotos von einer vierjährigen Luka und ihrem ersten Pony. Fina. Auf den Fotos lächelte ich noch fröhlich und auf einem hielt ich sogar stolz eine silberne Schleife hoch. Das musste die von meinem allerersten Führzügelturnier sein. Ich blätterte weiter. Viele Lukas und Pferde blickten mir entgegen. Das zweite Pony, das dritte Pony. Aber beim vierten stockte ich. Es war ein schicker Apfelschimmelwallach. Von ihm und mir gab es viele Springfotos. Das Schlimme war jedoch… ich wusste den Namen nicht mehr. Den Namen von meinem Pony. Was war mit mir passiert? Ich kannte den Namen von einem Pony nicht mehr. Von meinem Pony. Tränen tropften auf die Seiten und liefen an dem schwarzen Fotopapier herunter. Ich blätterte weiter. An die nächsten Pferde erinnerte ich mich nur noch sehr dunkel. Aber zumindest die Namen wusste ich. Da waren Sansibar, Darkie, Apollo und viele mehr. Schließlich kam ich auf die letzte Seite. Queen Rose. Das Pferd, von dem ich mich heute Morgen verabschiedet hatte. Fotos vom Turnier vorletzte Woche. Meine letzte Schleife. Aber meine Blicke auf den Bildern waren am allerschlimmsten. So gelangweilt. Es war peinlich. Ich hoffte nur, dass das Album nie einem anderen Reiter in die Hände fiel. Einem echten Reiter, meine ich. Einem, der sein Pferd und das Reiten liebte. Langsam legte ich das Album weg. Plötzlich hatte ich keine Lust mehr aufs Auspacken. Ich wollte nur noch schlafen. Morgen würde alles besser sein. Schnell machte ich mich fertig, dann schlüpfte ich ins Bett.